Innerstädtisches Umzugsverhalten in Chemnitz in den Jahren 2009-2013

Die Studie „ABSTIMMUNG MIT DEM MÖBELWAGEN? - Untersuchung der innerstädtischen Umzüge in Chemnitz in den Jahren 2009-2013“ beschäftigte sich mit sozialräumlichen Mustern und Charakteristika des Umzugsverhaltens der Bewohner von Chemnitz auf dem Stadtgebiet sowie - kleinräumiger betrachtet - auf Basis der 39 Stadtteile. Als Daten dienten die Stadtteilberichte der Stadt Chemnitz, die sämtliche innerstädtischen Wanderungsbewegungen aggregiert für alle 39 Stadtteile aufzeigen. Für jeden Stadtteil zeigen diese Berichte die Anzahl der Zuzügler (und Herkunftsstadtteile), Wegzügler (und Zielstadtteile) sowie „Umzieher“ innerhalb des Stadtteils. Um eine robuste Analyse zu gewährleisten und nicht nur kurzfristige Trends zu beleuchten, wählte die Studie einen Zeitraum von fünf Jahren (2009, 2010, 2011, 2012, 2013).

Die Analyse suchte nach der Systematik der Umzugserscheinungen in den Chemnitzer Stadtteilen und prüfte den Einfluss ausgewählter Faktoren (z. B. Altersstruktur, Baustrukturen, soziale Lage) auf die Qualität und Quantität von innerstädtischen Wanderungsbewegungen. Dabei formulierte die Studie acht Leitfragen, die mit Hilfe der vorhandenen Daten- und Quellenlage beantwortet werden sollte.

 

Problematik

 

Die Studie trägt den Titel „ABSTIMMUNG MIT DEM MÖBELWAGEN“. Ihr gedanklicher Ausgangspunkt ist die oft formulierte These, dass attraktive Stadtteile Einwohner gewinnen, während unattraktive Stadtteile unter einem Bevölkerungsschwund zu leiden hätten. Was in dieser verkürzten Argumentation häufig vergessen wird, ist eine hinreichend präzise Definition des Wortes „attraktiv“ bzw. „unattraktiv“. Dass die Schönheit (Attraktivität) normalerweise im Auge des Betrachters liegt, ist bekannt. Für den einen ist der Sonnenberg das attraktivste Stadtviertel Chemnitz, weil es die günstigsten Mieten bereithält, für den anderen der Stadtteil mit der höchsten HartzIV-Quote. Ein Weiterer wiederum schätzt die Architektur des Kaßbergs, während sein Nachbar täglich mit Parkplatzproblemen zu kämpfen hat. Der Bewohner von Markersdorf geniest den Blick ins Erzgebirge, während seine Kinder für den Weg zum Gymnasium weite Wege auf sich nehmen müssen. All dies (und noch vieles anderes) können Gründe sein, die für oder gegen einen Umzug in einen Stadtteil sprechen. Die Studie sucht nach diesen räumlichen Mustern, also nach Systematiken, wie sich bestimmte Stadtteile in den letzten Jahren – unter dem Blickwinkel der innerstädtischen Wanderungsbewegungen betrachtet – entwickelt haben. Sie kann nur auf Daten der Kommunalstatistik zurückgreifen, aber die entscheidende Information bei allen 89.000 Umzügen fehlt: das Motiv bzw. der Grund für den Umzug. Gründe für einen Umzug – und das zeigt schon die hohe Anzahl – gibt es viele; die städtische Bevölkerung ist seit jeher in Gebieten mit einem Wohnungsüberhang (d. h. mit großen Leerständen und vergleichsweise geringen Mieten) mobil: hier der Umzug einer Familie, die ihr zweites Kind erwartet, in eine größere Wohnung. Dort der Umzug einer Familie von der Mietwohnung in ein neu errichtetes Haus, hier der Umzug einer hochbetagten Seniorin in ein Altersheim, dort der Auszug eines inzwischen erwachsenen Kindes aus dem elterlichen Haus in die erste eigene Wohnung etc.

 

All diese Gründe sind der Studie nicht bekannt. In Folge dessen beschränkt sich die Analyse auf die sozialräumlich erkennbaren Befunde, die mit dem motivgesteuerten Umzugsverhalten der Chemnitzer Bürger statistisch auf Basis der Stadtteil-Ebene einhergehen und somit sichtbar gemacht werden können.

 

Für den einen oder anderen Betrachter der Studie mag die Analyse ein unbefriedigendes Ergebnis zurücklassen. Zwei Problembündel sind hierbei zu nennen: 1. Nicht alle Phänomene, die korrelieren (also auf den ersten Blick in einem statistischen Zusammenhang stehen) hängen auch ursächlich miteinander zusammen bzw. sind ursächlich kausal für etwas verantwortlich. Nur weil B steigt, wenn A steigt, ist das noch lange kein Indiz für einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen A und B. 2. Viele der ermittelten Befunde der Studie werfen somit neue Fragen auf. Fragen, die eventuell beantwortet werden könnten, wenn die genauen Motive der Umzüge bekannt wären. Getreu T. B. Veblens (1857 - 1929) Zitat "Ernstzunehmende Forschung erkennt man daran, dass plötzlich zwei Probleme existieren, wo es vorher nur eines gegeben hat." wird hier weitere Forschung vonnöten sein, um das Umzugsverhalten der Chemnitzer in seiner Gesamtheit verstehen und dessen Auswirkungen auf die Stadtteile interpretieren zu können.

 

Befunde und Erkenntnisse

 

1. Ausmaß der innerstädtischen Umzüge

 

2009-2013 sind 89.053 Personen auf dem Gebiet der Stadt Chemnitz umgezogen. Der jährliche Wert der innerstädtischen Umzüge liegt seit 2009 stabil zwischen knapp 17.500 und 18.150. Pro Jahr ziehen 7 bis 8 von einhundert Chemnitzern innerhalb der 39 Chemnitzer Stadtteile um. Auf 1.000 Chemnitzer gerechnet sind 74 Wanderungsbewegungen pro Jahr zu verzeichnen. Nimmt man als Anhaltspunkt die durchschnittliche Haushaltsgröße von 1,8 Personen zu Hilfe, so kann schätzungsweise von ca. 50.000 Haushalten gesprochen werden, die sich in den Jahren 2009 bis 2013 räumlich in Chemnitz verändert haben.

 

2. Entwicklung der innerstädtischen Umzugshäufigkeiten in den letzten Jahren

 

Im 5-Jahres-Vergleichszeitraum 2003-2007 registrierte die Stadt Chemnitz 102.483 innerstädtische Umzüge, d. h. ca. 15 % mehr als im Berichtszeitraum dieser Studie. 2003 und 2004 wurden jeweils mehr als 22.000 innerstädtische Umzüge registriert. Dieser Wert fiel erstmals 2007 unter die Marke von 18.000. Da im damaligen Zeitraum die Bevölkerungszahlen von Chemnitz noch leicht höher als die heutigen waren, muss mit Prozentwerten gearbeitet werden: 2003 zogen etwa 9 % der Chemnitzer innerhalb der Stadt um, 2005 waren es 8,3 % und 2007 nur noch 7,4 %. Der Wert von 7,5 % deckt sich mit den Befunden der Jahre 2009 bis 2013. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass seit einem knappen Jahrzehnt die innerstädtische Umzugsquote bei relativ konstanten 7 bis 8 % der Bevölkerung liegt, die jährlich auf dem Chemnitzer Stadtgebiet umzieht.

 

3. Innerstädtische Mobilität in den 39 Stadtteilen

 

Die innerstädtische Mobilität schwankt stark zwischen 12 % (im Lutherviertel, 118 Umzüge pro 1.000 Einwohner) und Stelzendorf bzw. Kleinolbersdorf-Altenhain, wo jährlich nicht einmal 3 % der Bevölkerung innerstädtisch ausgetaucht werden (25 bzw. 26 Umzüge pro 1.000 Einwohner). In innerstädtischen Stadtteilen ist die Umzugshäufigkeit weitaus höher als in den Randgebieten von Chemnitz. Die ersten acht Stadtteile mit den größten Mobilitätskennwerten (Lutherviertel, Sonnenberg, Furth, Zentrum, Schloßchemnitz, Hilbersdorf, Kaßberg, Bernsdorf) befinden sich allesamt in der Chemnitzer Kernstadt. Der mobilste nicht-innerstädtische Stadtteil ist Hutholz mit 88 Umzügen pro 1.000 Einwohner. Am wenigsten Bewegung ist in den ländlich geprägten Stadtteilen Röhrsdorf, Adelsberg, Reichenhain, Einsiedel, Wittgensdorf, Euba, Klaffenbach, Stelzendorf, Kleinolbersdorf-Altenhain (Werte zwischen 25 und 39 Umzüge pro 1.000 Einwohner) zu verzeichnen. Somit weisen die mobilsten Chemnitzer Stadtteile ungefähr viermal mehr „innerstädtische Bewegung“ in Form von Umzügen (pro 1.000 Einwohner gerechnet) auf als die dörflichen Ränder von Chemnitz.

 

4. Innerstädtische Wanderungsverluste und –gewinne in den 39 Stadtteilen

 

Bestimmte Stadtteile haben durch innerstädtische Umzüge in den Jahren 2009-13 Einwohner gewonnen, andere wiederum haben deutlich verloren. Zu den stärksten Gewinnern (absolut betrachtet) gehören Kapellenberg (+537), Zentrum (+479), Hutholz (+451), Glösa-Draisdorf (+320) und Adelsberg (+238). Am stärksten verloren der Sonnenberg (-589), Bernsdorf (-473), Hilbersdorf (-380), Helbersdorf (-243) und Markersdorf (-229).

 

Die Liste der Stadtteile zeigt, dass baustrukturell verschiedenste Stadtteile Erfolge und Verluste erzielen konnten. Ein klares System ist auf den ersten Blick nicht erkennbar.

 

5. Umzüge innerhalb der Stadtteile

 

34 % der Umzüge finden innerhalb des Stadtteils statt: 30.200 von 89.000 Wanderungsbewegungen erfolgten in ein und demselben Stadtteil. Der Wert liegt jetzt bereits seit mehr als 10 Jahren auf vergleichbarem Niveau. In den letzten fünf Jahren ist der Wert – wenn man auch Kommastellen mit zu Rate zieht - kontinuierlich minimal gesunken (2009: 34,5%; 2010: 34,4 %, 2011: 33,8%, 2012: 33,5 %, 2013: 33,1 %). Spitzenreiter ist Wittgensdorf, wo 58 % aller innerstädtischen Umzüge im Stadtteil erfolgen, in Rottluff (8 %) und Stelzendorf (6 %) sind die Werte ein-stellig. Die Größe des Stadtteils, die historische „Gewachsenheit“ des Gebietes sowie der Anteil an Wohneigentümern beeinflussen den Wert der stadtteilbezogenen Umzüge. Selbst für die fünf bevölkerungsreichsten Chemnitzer Stadtteile lassen sich relativ große Unterschiede feststellen: Die Werte schwanken von Bernsdorf (45 %) und Sonnenberg (44 %) über Kaßberg (40 %), Gablenz (35%) bis hin zu Schloßchemnitz, wo „nur“ noch jeder dritte Umzug innerhalb des Stadtteils erfolgt (32 %).

 

6. Einflussvariablen der innerstädtischen Wanderungsbewegungen

 

Für ausgewählte Variablen wurde geprüft, ob diese in einem Zusammenhang mit dem Umzugsverhalten stehen: 1. Mit sinkender HartzIV-Quote der Bevölkerung verringert sich auch das Ausmaß an innerstädtischer Mobilität in den Stadtteilen – aber: Die Leistungsempfänger-Quote ist nicht in der Lage, das Saldo von innerstädtischen Zuzugs- oder Wegzugsanzahlen in den Stadtteilen zu prognostizieren. 2. Beim Blick auf den Zusammenhang zwischen Durchschnittsalter und Mobilität zeigt sich eine uneinheitliche Entwicklung: Junge Stadtteile sind hochmobil, während ältere Gebiete scheinbar an Mobilität zulegen. Die Gebiete mit mittleren Altersdurchschnitten wiederum zeichnen sich durch eine unterdurchschnittliche Mobilität aus. 3. Je dichter ein Wohngebäude bewohnt ist (Bewohner pro Adresse), desto höher ist im Trend auch die innerstädtische Mobilität in den Stadtteilen. 4. Der Zusammenhang der Variablen „innerstädtische Mobilität“ und „innerstädtische Wanderungsgewinne bzw. -verluste“ (jeweils im Stadtteil) zeigt keinen eindeutigen Befund – eher eine „Systemlosigkeit“. 5. Altersbedingte Umzüge in spezielle Alteneinrichtungen (Betreutes Wohnen, Pflegeheim, Concierge-Wohngebäude) haben erheblichen Einfluss auf die Wanderungsbilanzen der Stadtteile. Von den 12 Stadtteilen mit den höchsten Rentner-Quoten konnten neun Stadtteile durch innerstädtische Umzüge Bevölkerung gewinnen.

 

7. Innerstädtisches Umzugsverhalten - Typen von Stadtteilen

 

In Abhängigkeit von den drei Variablen „innerstädtische Mobilität pro 1.000 EW“, „Wanderungssaldo pro 1.000 Einwohner (2009-2013)“ und „Anteil der Umzüge, die innerhalb des Stadtteils erfolgen“ konnten alle 39 Stadtteile sieben verschiedenen Typen zugeordnet werden (Typ 2 ist de facto nicht vertreten):

 

Typ 1 - überdurchschnittliche innerstädtische Mobilität, Wanderungsgewinne, unterdurchschnittlicher Anteil an Umzügen innerhalb des Stadtteils (Furth – Zentrum – Hutholz – Morgenleite) ++++ Typ 3 - überdurchschnittliche innerstädtische Mobilität, Wanderungsverluste, unterdurchschnittlicher Anteil an Umzügen innerhalb des Stadtteils (Schloßchemnitz – Lutherviertel) ++++ Typ 4 - überdurchschnittliche innerstädtische Mobilität, Wanderungsverluste, überdurchschnittlicher Anteil an Umzügen innerhalb des Stadtteils (Hilbersdorf – Kaßberg – Bernsdorf – Kappel – Sonnenberg) ++++ Typ 5 - unterdurchschnittliche innerstädtische Mobilität, Wanderungsgewinne, unterdurchschnittlicher Anteil an Umzügen innerhalb des Stadtteils (Adelsberg – Reichenhain – Erfenschlag – Glösa-Draisdorf – Schönau – Harthau – Siegmar -- Rottluff – Kapellenberg – Altendorf) ++++ Typ 6 - unterdurchschnittliche innerstädtische Mobilität, Wanderungsgewinne, überdurchschnittlicher Anteil an Umzügen innerhalb des Stadtteils (Grüna – Yorckgebiet – Rabenstein) ++++ Typ 7 - unterdurchschnittliche innerstädtische Mobilität, Wanderungsverluste, überdurchschnittlicher Anteil an Umzügen innerhalb des Stadtteils (Gablenz – Ebersdorf – Markersdorf – Mittelbach – Röhrsdorf – Einsiedel – Wittgensdorf) ++++ Typ 8 - unterdurchschnittliche innerstädtische Mobilität, Wanderungsverluste, unterdurchschnittlicher Anteil an Umzügen innerhalb des Stadtteils (Altchemnitz – Helbersdorf – Reichenbrand – Borna – Euba – Klaffenbach – Stelzendorf – Kleinolbersdorf-Altenhain) ++++ Typ 2 - überdurchschnittliche innerstädtische Mobilität, Wanderungsgewinne, überdurchschnittlicher Anteil an Umzügen innerhalb des Stadtteils (kein Stadtteil konnte zugeordnet werden).


Die komplette Studie ist im FOG-Shop erhältlich.

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